Carsten Gritzan im Gespräch mit Julietta Weimer
Erschienen im Schwarz Magazin - Ausgabe 3

Bilder: Martina Engert
Unser Schwarz-Bus ist wieder auf Tour. Dieses Mal verschlägt es uns nach Lüdinghausen. Wir möchten Julietta Weimer im “Das blaue Atelier” einen Besuch abstatten. Das kleine Städtchen, südwestlich von Münster gelegen, wirkt auf unseren ersten Blick nicht, wie ein typischer, lukrativer Ort für ein Tattoo-Studio. Auch die kleine Gasse, in dem sich das Atelier niedergelassen hat, inmitten von Fachwerkhäusern und geordneter Kleinstadtidylle, entspricht nicht einer typischen Tattoo-Hood, denken wir so. Und schon stecken wir knietief im ersten Klischee fest. Was ist denn eine typische Tattoo-studio-Gegend? Was ist eine typische Stadt für ein Tattoo-Studio? Wo ist das Rotlicht-Milieu?
Wo ist die gesichtstätowierte Bande, die grimmig vor dem Studio abhängt und harmlose Passanten verschreckt? 
Natürlich übertreiben wir hier bewusst. Tätowierer*innen sind gegenwärtig angesehene Gestalter*innen und Künstler*innen. Der Beruf hat sich in der Gesellschaft etabliert und ist Teil davon geworden. Die Kunst des Tätowierens bietet einen unglaublichen Facettenreichtum. Und wie in jeder Kunst,
gibt es Stars, Fans, Trends, Freunde und Feinde.
Trotzdem werden Tätowierer*innen noch immer nicht im ersten Atemzug bei der Benennung im künstlerischen Gewerbe genannt. Warum das so ist, versuchen wir mit Julietta herauszufinden. Dieses Thema liegt der jungen Atelier-Besitzerin sehr am Herzen. Verständlich. Es ist schwierig und ermüdend, sich immer wieder für seine Arbeit erklären zu müssen. Gar nicht mal in der Gesellschaft. Es sind Verwaltungsapparate, die immer noch Klischees fördern und sich auf bestehende Einstufungen berufen.
Julietta Weimer teilt sich “Das blaue Atelier” mit der Illustratorin und Tätowiererin Nicola Verwohlt. Eröffnet hat das Atelier erst im vergangenen Jahr. Und schliesst dann wieder, bedingt durch die Pandemie. Ein unglücklicher Start. Eine harte Zeit, die nur durch eine Menge Optimismus durchgestanden werden kann. Und den strahlt Julietta mit allem aus, was ihr zur Verfügung steht. Nun durfte das Atelier die Türen wieder öffnen. Dem Neustart steht also nichts im Weg.
Die Verantwortung, die bei den Tätowierer*innen liegt, ist im kreativen Handwerk einzigartig. 
Kunden möchten, ist die Wahl auf eine Gestalterin oder einen Gestalter einmal gefallen,  bedingungslos vertrauen können. Im Grunde muss jede Tätowiererin und jeder Tätowierer auch illustrieren können. Gut malen können reicht da nicht. Es muss gestalterisch und handwerklich auf die Wünsche der Kunden eingegangen werden können. Wie auch in der Illustration etablieren sich Stile und Spezialisierungen. Gestalterische Qualität setzt sich durch. “Ein Leben lang guckt ein Mensch auf seine Tätowierung. Was für ein Kompliment ist das denn bitteschön, gegenüber der Gestalter*in. Kleine Fußstapfen im fremden Leben hinterlassen. Das ist unglaublich.” 
Den doppelten Boden, die Korrekturschleifen, die mit einem klassischen Illustrations-Job einhergehen, fallen bei einer Tätowierung weg. “Der Kunde muss sich dem Prozess hingeben.” 
Die Ansprüche der Kunden sind, im Zeitalter von Instagram und Co., sehr hoch angesetzt. 
Die Tattoo-Szene verändert sich natürlich ebenso, wie jedes andere kreative Handwerk auch. Bemerkbar ist die große Bandbreite an Einflüssen aus umliegenden künstlerischen Disziplinen. Die Persönlichkeiten hinter den Studios und den Ateliers treten auch in dieser Branche immer mehr in den Vordergrund. Die vorher angemerkte Präsentation auf den sozialen Medien spielt dabei eine große Rolle. Es gilt aufzufallen, sich zu unterscheiden. 
Kunst ist eben auch ein Geschäft. 
Auch Julietta nutzt natürlich diese Plattformen, um ihre Arbeit, ihre Vielschichtigkeit zu präsentieren. Die Möglichkeit, um anhand von Projekten, wie beispielsweise das Sketchbook-Project der Brooklyn Art Library auf Instagram, ihre Arbeit mit vielen anderen Kreativen aus den unterschiedlichsten Richtungen zu teilen, fasziniert Julietta. Sie sucht und nutzt diese Tools. Ob in den sozialen Medien, als Gast in Podcasts, oder eben an dieser Stelle im Schwarz Magazin. Julietta verlässt die Tattoo-Blase, sie möchte ihr Anliegen kundtun. Mit bestmöglicher Reichweite. Und das betrifft nicht alleine ihre Person. Sie engagiert sich für ihren Beruf. Sie möchte aufklären. 
Ein Kernthema in Juliettas Aufklärungsarbeit betrifft ihr Anliegen, dass die KSK Künstlersozialkasse den Beruf des Tätowierens als Kunst eingestuft. Und somit die Türen öffnet, Tätowierer*innen
endlich die längst überfällige Möglichkeit zu einer Krankenversicherung freier Wahl und zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung bietet. Und somit natürlich auch weitere Leistungen aus dem Katalog der KSK in Anspruch nehmen können.
Wer sich damit noch nicht weiter beschäftigt hat, ist vielleicht überrascht, dass dies nicht der Fall ist. Wieso sollte das Tätowieren auch keine Kunst sein? Der Verein für Tätowierkunst e.V. versucht schon seit geraumer Zeit sich mit den Forderungen bei der KSK Gehör zu verschaffen. Und wird geblockt. Erst kurz vor Redaktionsschluss wurde uns das Ergebnis eines Termins am 3. November 2021 mit einem Mitarbeiter der KSK und dem Verein für Tätowierkunst e.V. übermittelt. Daraus geht deutlich hervor, dass die in den Vordergrund geschobenen Diskussionen, in denen es darum geht zu definieren was Kunst sei, was nicht, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, welche Reputation aus dem Lager der bildenden Kunst geschaffen werden muss, nichts weiter als auf Richtlinien bestehende Worthülsen sind. Worthülsen von Bürokraten, die entscheiden sollen wie Kunst gewertet werden soll. In besagtem Gespräch ging zudem hervor, in welchem Umfeld der KSK-Mitarbeiter Tattoo-Studios selber sieht. Der Vergleich zu Spielotheken kam gleich zu Beginn des Gesprächs auf. Wir sind wieder, wie Eingangs zu diesem Artikel erwähnt, in einem düsteren Klischee-Gewitter gelandet. Von einer Institution ausgehend, die sich dies nicht leisten darf. Die Gesellschaft ist dem mit ihrem Verständnis von Akzeptanz einen ganzen Schritt voraus. Vielleicht war die Äußerung des Mitarbeiters nur
etwas ungelenk, der Situation geschuldet. Aber das Echo bleibt.
Wir wollen uns nicht an einer Diskussion beteiligen, um einzuschätzen was Kunst ist. Schon gar nicht, wo eine entsprechende Schöpfungshöhe für Institutionen liegt. Es muss aus unserer Sicht nur nachvollziehbar bleiben. Der Beruf der Illustratorin und des Illustrators wird von der KSK berechtigt anerkannt. Illustration ist nur eine der Grundvoraussetzungen, um den Tätowier-Beruf überhaupt ausüben zu können.  
Wir wollen aber bei Juliettas Engagement nicht ihre Arbeit aus dem Augen verlieren. Die Illustration steht bei Julietta ganz offensichtlich im Vordergrund. Nicht ohne Grund nennt sie ihren Arbeitsplatz auch Atelier. Hier entsteht Kunst. Und Tätowieren ist eine Kunstform, die hier angeboten wird. 
Eine rührende Geschichte am Rande, die vielleicht die heutige Leichtigkeit was ihre Zeichnungen angeht erklärt. Mit acht Jahren kam Julietta aus der Ukraine nach Deutschland, sie konnte natürlich kein Wort deutsch. Um kommunizieren zu können, zeichnet sie was sie sagen möchte. Die Skizzen machen eine Verständigung erst möglich. Eine unfreiwillige aber effektvolle Schule. Vielleicht die beste die es gibt.
Juietta ist Teil von Ausstellungen, erstellt Auftragsarbeiten, realisiert freie Projekte und ist  immer offen für weitere Ausdrucksformen und neue Stile. Auch wenn Stifte, Farben und Tattoo-Maschine ihre Favoriten sind, beherrscht sie die digitalen Programme und schätzt in der Umsetzung deren Vorzüge. Diese Kombination hat sie dem Schwarz Magazin mit dem Entwurf und der Gestaltung des Titelbildes dieser Ausgabe beeindruckend unter Beweis gestellt. Ein kurzes Briefing und Julietta wusste wohin die Reise gehen soll. Wir hatten eine genaue Vorstellung, die punktgenau umgesetzt wurde. 
Julietta ist Gestalterin, vielleicht in einer der modernsten Form. Bedingt durch die große Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten, durch die Offenheit für neue Einflüsse, das Engagement und die Durchsetzungskraft ihrer Belange und durch ihre einnehmende Persönlichkeit. 
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