Carsten Gritzan im Gespräch mit Mathias Keswani
Erschienen im Schwarz Magazin - Ausgabe 5
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Der Informatiker Christoph Mäschig und Creative Director Mathias Keswani gründen 2009 in Hamburg das Unternehmen Nerdindustries. Der Name ist Programm. Eine Firma von Nerds für Nerds soll es werden, die Tools und Produkte für Leute entwickelt, oder besser erfindet, wie sie es sind. Selber bezeichnen die beiden das Vorhaben heute als naiv. Die Entwicklung und die Zeit geben den Gründern jedoch recht. Heute zählen Großunternehmen wie Adidas, Google, Daimler, Porsche, Sennheiser, AUDI, Otto und viele weitere, zum festen Kundenstamm. 
Wie es ist, der Zeit immer mindestens einen Schritt voraus zu sein, die Balance zwischen Kreativität und Unternehmensführung zu meistern, den Umgang mit der “Innovation” in richtige Bahnen zu lenken, ohne den Gründungsgedanken aus den Augen zu verlieren, erzählt uns Mathias Keswani.
„Die ersten Jahre waren schon anstrengende Lehrjahre für uns. Es hat lange gedauert, um das was wir machen wollten, in eine verständliche Form zu gießen. Technische Innovationen, Erfindungen, dafür gab es in Deutschland ja keinen Markt. Kurz nach Facebook, war Social-Media und Online-Werbung der digitale Standard. Wir waren eben sehr früh dran mit unseren Ideen. Auch der Begriff Nerd war eine kleine Zumutung für die Öffentlichkeit, viel anzufangen wussten die Leute damit nicht. Drei Jahre lang haben wir uns fast ausschließlich mit Agentur-Aufträgen aus dem Bekanntenkreis über Wasser gehalten. Das war unser Brot- und Buttergeschäft.“
Einnahmen wurden stets in die Firma gesteckt, um Projekte zu realisieren, für die ursprünglich Nerdindustries gegründet wurde. Die Ergebnisse wurden öffentlich gemacht, ein Netzwerk wurde gesponnen. So entstand nach und nach eine wachsende Reputation. „Eigentlich ging es 2012 erst richtig los.“ Vor dieser Zeit hatten Werbeagenturen noch eine klassische Struktur. Grafikdesign, Webdesign, Social Media, das waren die Kerngeschäfte, die maximale Innovation. Entsprechend beschränkte sich die Nachfrage von Kundenseite auf diese Bereiche. Verständlich, weil Unternehmen wie Nerdindustries, mit völlig neuen Entwicklungsansätzen, konzeptionell in den Köpfen der Unternehmen und Agenturen noch nicht stattgefunden haben. 
Schon als die beiden Gründer Mathias und Christoph sich in ihrer Anstellung bei Jung von Matt kennengelernt hatten, war diese Sackgasse der Motor, um Nerdindustries ins Leben zu rufen.
Die DIY-getriebene Art Dinge anzugehen haben die Nerds im Blut und ist immer noch ein wichtiger Faktor in ihrem Unternehmenskonzept. „Wenn es etwas nicht gibt, schaffe es. So fing alles an. Nachts, in Christoph`s Küche, bei einigen Bieren wurden die ersten Ideen entwickelt und umgesetzt. Sonst hatten wir im Grunde keine Ahnung von nichts. Wir hatten kein Business-Modell, keiner von uns hatte jemals ein Angebot geschrieben. Zwei infantile Typen, die sich selbstständig gemacht haben. Um seriös zu wirken, wurden Anzüge gekauft, in denen man wie der letzte Depp aussah. Danach wurde der Hoodie eigentlich nicht mehr ausgezogen. Die Wichtigkeit von Authentizität musste sich erst entwickeln.“
Nun sind Geschichten wie diese umso sympathischer und inspirierender, wenn später auch der Erfolg einsetzt. Mit der Start-Up-Welle aus Silicon Valley, mit ihrem Ideenreichtum und vor allem mit ihrem Erfolg, nimmt auch das Konzept von Nerdindustries Fahrt auf. Die Entwicklung in den USA beeindruckt die Vorstände hierzulande und versetzt die Firmen ein wenig in Panik. Was gut ist, ändert sich so auch in Deutschland die Denkweise. Die Angst macht sich breit, dass die bestehenden Geschäftsmodelle mit der revolutionären Gangart nicht mehr mithalten können. 
Die Nerds sind nun prima aufgestellt, die Ideen und das Know How sind ohnehin da. Also zurücklehnen und die Anfragen sortieren?
„Wir sind zwar Teil der Medien- und Werbebranche, doch gibt es zu viele Dinge in diesen Bereichen, die nicht unserer DNA entsprechen. Das was Agenturen machen, liegt noch immer fernab von dem was wir wollen. Wir dienen oft nur als Tool, um bei den Unternehmen sagen zu können. ‘Wir machen den heißen Scheiß, wir haben Nerdindustries mit im Programm’. Was man oft vergisst ist, dass Kunden aus einem bestimmten Grund eine Agentur auswählen. Wenn ein Unternehmen zu einer Agentur wie Jung von Matt geht, möchte sie kreative Exzellenz und Awards, aber keine Innovation. Und zu uns kommen die Kunden nicht, wenn sie etwas brauchen, was andere viel besser können. Wie zum Beispiel digitale Kampagnen. Zu uns kommen Kunden dann, wenn sie etwas brauchen, was es bis dato noch nicht gibt und wofür sie noch keine Lösung haben. Und das Zusammenzubringen, mit dem klassischen Programm einer Agentur, funktioniert nur sehr überschaubar.“
Viel Aufmerksamkeit konnte Nerdindustries durch Mund-zu-Mund-Propaganda, durch Veranstaltungen und Präsentationen wecken. Interessant ist, dass zuerst die Projekte realisiert werden, ohne Antragstellung, erst dann mit dem Projekt der Kontakt zu den Unternehmen gesucht wird. „Ich habe die Firma immer wie eine Band gesehen. Platte, touren, Platte, touren. Raus auf die Bühne, den Leuten zeigen was man kann, was man macht. Authentisch sein und schauen, ob es jemand geil findet.“ Die Herangehensweise ist nicht nur beeindruckend, sie funktioniert auch. Auf diesem Weg wurden Kunden wie Adidas oder Red Bull für sich gewonnen.
Die gemeine Frage über die Zukunft der Medien- und Werbewelt lässt sich für unsere Ausgabe nicht vermeiden. Nerdindustries selbst ist ein Teil der Zukunft auf dem Markt. Weil sie Erfinder sind. Entwickler, die Dinge realisieren, an die wir noch nicht denken. Von denen wir nicht wissen, dass es sie mal geben wird oder irgendwann der heiße Scheiß sein werden. Dinge, von denen wir noch nicht ahnen, dass wir sie brauchen wollen.
Aber wie sieht es mit den klassischen Agenturen aus? Ob Print oder digitale Lösungen, sind das überhaupt die wichtigen Fragen?
„Was die Zukunft der Werbebranche angeht, stelle ich einige Dinge fest, bei denen ich nicht weiß, wo sie hinführen. Mir fällt es schwer zu definieren, was noch das Ziel dieser Branche ist. Ich kann auch nicht sagen, wohin sich der Werbemarkt entwickeln wird. Ich selber würde heute keine Werbeagentur gründen. Weil ich nicht wüsste, was meine Leistung von der Leistung der anderen unterscheiden könnte. Ich habe das Gefühl, dass der ganze Markt nur noch preisgetrieben ist und die Unterscheidungen der Agenturleistungen so marginal sind, dass es schließlich egal ist, zu wem ich gehe. Vor einigen Jahren hatten die Agenturen alle noch einen eigenen Fingerprint. Als Kunde wusstest du genau was du bekommst, wenn du zu einer bestimmten Agentur gehst.“
Um diesen Fingerprint aufrecht zu halten wird sich die Werbebranche vielleicht in eine Welt der Freelancer aufteilen, die durch ihre Netzwerke in der Lage sind, komplexere Prozesse zu realisieren. Im Idealfall verschiebt sich der Wert wieder auf die reine Kreativität und nicht auf die Reputation der Agentur und öffentlichkeitswirksame Coups.
Und wie sieht es mit der Zukunft im Print aus? Auch hier findet Mathias einleuchtende Argumente, die den Druck, gerade bei Büchern, nicht für tot erklären. „Bei Büchern merke ich, zumindest in meinem Umfeld eine Trendwende. Weg von digitalen, hin zum physischen Buch. Der Vinyl-Effekt. Was die Branche machen könnte, wäre ein physisches Buch zu emotionalisieren. Ein gutes Beispiel sind die Harry Potter-Veröffentlichungen. Gefühlt haben alle Kinder dieser Welt wieder gelesen. Die Leute standen Schlange an den Buchläden. Das gab es seitdem nicht mehr. Die Verlagsbranche könnte viel mehr durch emotionale Kommunikation in der Werbung die jungen Menschen abholen. Stattdessen muss immer die gleiche Marketingmaschine herhalten. Es scheint, dass die Verlage sich darauf ausruhen möchten, zu glauben, dass sie ja die Zielgruppen, die Bücherwürmer haben. Das reicht denen. Es könnte viel mehr für junge Leute und Kinder gemacht werden. Print kannibalisiert sich selbst, gerade bei Zeitschriften. Das Geschäftsmodell ist nur darauf ausgelegt, durch Werbung ihren Journalismus zu finanzieren. Das ist natürlich Quatsch. Die Leute sollen für den Content, den sie lesen, bezahlen. Die ganze Branche hat nicht den Mumm, entweder die eine oder die andere Richtung einzuschlagen. Daran krankt das Ganze. Das Medium Zeitschrift ist nicht tot. Was wir nicht schaffen, ist sich überhaupt die Zeit zu nehmen wieder in Ruhe ein Magazin durchzublättern. Der Zeitgeist, wie wir momentan leben, durch das Leben hetzen, ist kontraproduktiv für dieses geduldige Medium Papier.“
Es gibt eine Vielzahl an großartigen Beispielen für die Arbeit von Nerdindustries. Ein Besuch im Web ist sehr zu empfehlen. Auch wenn eine Menge interessante Projekte dort noch nicht aufgeführt sind, wird deutlich, wo der Antrieb des Kreativ-Kollektivs liegt. Der Reiz was gänzlich Neues zu entwickeln. Den Nutzen auf die Kunden und schließlich den User zu übertragen, somit einen Mehrwert zu schaffen. Immer der Zeit zwei Schritte voraus zu sein und uns auf die sympathischste Art zu überfordern. Willkommen bei den Erfindern von Nerdindustries.
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